Verfassungsbeschwerde gegen BGH-Urteil zur „Wittenberger Judensau“
Das als „Judensau“ bezeichnete Relief an der Fassade der Stadtkirche
in Wittenberg muss nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes nicht
entfernt werden, obwohl es auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofes
das gesamte jüdische Volk und seine Religion verhöhne und verunglimpfe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die von uns eingelegte
Verfassungsbeschwerde
Der Bundesgerichtshof hat grundsätzlich einen bis zum 11.11.1988
bestehenden rechtsverletzenden Zustand darin gesehen, dass das
beanstandete Relief an Ort und Stelle belassen wurde:
Denn das beanstandete Sandsteinrelief verhöhne und verunglimpfe das
gesamte jüdische Volk und seine Region, mithin das Judentum als Ganzes.
Durch eine solche Darstellung werde der Geltungs- und Achtungsanspruch
eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen. Diese
Personengruppe sei durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer
Einheit verbunden, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lasse.
Der vom deutschen Staat im Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel der Ausrottung
des jüdischen Volkes begangene Massenmord an Juden präge den
Geltungsanspruch und Achtungsanspruch eines in Deutschland lebenden
Juden. Es gehöre zum personalen Selbstverständnis eines jeden Juden, als
Teil einer durch das unfassbare Unrecht herausgehobenen Personengruppe
begriffen zu werden, die besonders verletzlich sei und der gegenüber
eine besondere moralische Verantwortlichkeit aller anderen Deutschen
bestehe; dieses Selbstverständnis sei Teil ihrer Würde (Rn. 10 f.).
Die in dem beanstandeten Relief zum Ausdruck kommende Aussage sei
geeignet gewesen, den Kläger in seinem Recht auf Achtung seiner
Persönlichkeit zu verletzen. Der sonst zur Feststellung einer
Persönlichkeitsrechtsverletzung erforderlichen Abwägung der
widerstreitenden Grundrechte und Interessen im konkreten Einzelfall
bedürfe es ausnahmsweise nicht, weil die Aussage als „Schmähung“ zu
qualifizieren sei. Eine Äußerung nehme den Charakter einer Schmähung
zwar erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache,
sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund stehe. So verhalte es
sich aber im Streitfall. Die in dem Relief verkörperte Aussage habe für
sich genommen keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug zu einer
sachlichen Auseinandersetzung; nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts ziele sie vielmehr darauf ab, Juden und ihren Glauben
verächtlich zu machen und zu verhöhnen (Rn. 12).
Die in dem beanstandeten Relief zum Ausdruck kommende Aussage sei der
Beklagten auch zuzurechnen. Diese habe durch ihren Gemeindekirchenrat
im Jahre 1983 entschieden, das Relief im Rahmen von Sanierungsarbeiten
an der Kirche an seinem Ort zu belassen und ebenfalls zu sanieren, und
habe dementsprechend die Sanierung durchgeführt. Hierdurch habe sie den
rechtsverletzenden Zustand durch ein ihr zurechenbares Verhalten
aufrechterhalten oder sogar – durch Herstellung einer infolge der
Sanierung besseren Erkennbarkeit des diffamierenden Aussagegehalts –
intensiviert (Rn. 14).
Dieser rechtsverletzende Zustand bestehe aber nach Auffassung des
Bundesgerichtshofs seit dem 11.11.1988 nicht mehr, weil durch die in
Bronze gegossene Bodenplatte eine ausreichende Distanzierung erfolgt sei
und das Relief nunmehr als Mahnmal zu verstehen sei:
Die Beklagte habe den jedenfalls bis zum 11.11.1988 bestehenden
rechtsverletzenden Zustand aber dadurch beseitigt, dass sie unter dem
Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in
Bronze gegossene Bodenplatte mit der Inschrift „Gottes eigentlicher
Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen
fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem
Kreuzeszeichen“ enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen
„Schrägaufsteller“ mit der Überschrift „Mahnmal an der Stadtkirche
Wittenberg“ angebracht habe, der den historischen Hintergrund des
Reliefs und die Bronzeplatte näher erläutert habe. Aus der maßgeblichen
Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Betrachters habe sie
damit das bis dahin als Schmähung von Juden zu qualifizierende
Sandsteinrelief – das „Schandmal“ – in ein Mahnmal zum Zwecke des
Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung
und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoa umgewandelt und sich von der
früheren Aussage – wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum
Ausdruck komme – distanziert. (Rn. 15).
Diese Auffassung teilt der Beschwerdeführer nicht.
Die Belassung des Sandsteinreliefs mit der „Wittenberger Judensau“
nicht nur an einer christlichen Kirche, sondern damit auch in aller
Öffentlichkeit kann in Deutschland bereits generell nach
dem unvorstellbaren und unbeschreiblichen Verbrechen des Holocausts mit
der in industriellem Maßstab durchgeführten Ermordung von nahezu 6
Millionen Juden nicht (mehr) akzeptiert werden. Es geht also nicht, wie
von den Befürwortern des Belassens der „Wittenberger Judensau“ an der
Fassade der dortigen Stadtkirche geltend gemacht, um eine ahistorische
Bilderstürmerei, sondern um das längst fällige Eingeständnis, dass
Darstellungen gerade aus historischen Gründen aus der Öffentlichkeit
verbannt gehören.
Mit anderen Worten: Der so öffentlich präsentierte, abstoßende und »in Stein gemeißelte Antisemitismus«
(so der Vorsitzende des VI. Zivilsenats des BGH in der mündlichen
Verhandlung) verschließt sich von vornherein jeder Relativierung und
Kontextualisierung, insbesondere auch einer solchen in historischer
Hinsicht. Genauso wenig wie es jemandem einfallen würde bzw. eingefallen
ist, Hakenkreuz-Embleme oder Hitlerbüsten in der Öffentlichkeit zu
belassen und (lediglich) zu kontextualisieren, verliert so ein
„Schandmal“ wie die an der Wittenberger Stadtkirche angebrachte
„Judensau“ seine abstoßende Wirkung durch Beifügung von „Erklärtafeln“.
Das gilt umso mehr und erst recht, als es nicht nur um die
mittelalterliche Darstellung der „Judensau“ und ihrer die Schmähung noch
vertiefende Kommentierung durch Martin Luther selbst geht, sondern weil
diese zutiefst beleidigende Manifestierung eines unversöhnlichen
Judenhasses das Menetekel eines sich über die Jahrhunderte immer mehr
verstärkenden Antisemitismus darstellt, der in die Shoa einmündete,
aufgrund deren Deutschland auf unabsehbare Zeit gebrandmarkt ist.
Daher hat Deubner & Kirchberg das Mandat übernommen und Prof. Dr. Kirchberg hat Verfassungsbeschwerde eingelegt.